Die Mauer fällt -
Berlin ist grenzenlos - die Grenzen los

Wie die Pfarrgemeinden in Hennigsdorf und Weißensee die Wende erlebten

Berlin - Palast der Republik am 40. Geburtstag der DDR. Das übliche Jubel-Zeremoniell läuft ab: Festlich gekleidete Funktionäre, Uniformierte mit dekorativen Ordensschnallen und FDJ-ler in Blauhemden, pathetische Propaganda-Reden und rhythmisches Klatschen. Die sozialistischen Bruderküsse allerdings kaum mehr als rituelle Pflichtübungen. Auch der trotzige Gesang der Internationale mit dem Appell „Auf zum letzten Gefecht“ weckte eher zwiespältige Gefühle. Zu tief war der Graben zwischen Moskau und Pankow geworden. Die SED-Spitze wusste: die politischen Turbulenzen hatten eine Stärke erreicht, die nur noch mit der des 17. Juni 1953 zu vergleichen war.
Die Zahl der Ausreiseanträge stieg sprunghaft an. Nach der Öffnung der grünen Westgrenze Ungarns war auf dieses sozialistische Bruderland auch kein Verlass mehr. Die Montagsgebete in Leipzig fanden immer mehr Zulauf. Obwohl das „Neue Forum“ als „staatsfeindliche Plattform“ keine Zulassung erhielt, blieb es Sammelbecken kritischer Bürger. Auf dem Dresdener Hauptbahnhof hatte es schwere Zwischenfälle gegeben, als Prager Botschaftsflüchtlinge mit dem Zug in den Westen ausreis-ten. Der Innendruck der DDR-Gesellschaft war hochexplosiv.
Der katholischen Kirche in der ehemaligen DDR ist später mehrfach vorgeworfen worden, in der Wendezeit eine eher abwartende Zuschauerrolle eingenommen zu haben. Es ist kaum zu bestreiten, dass der von Bischof Bengsch 1961 aus wohlerwogenen Gründen eingeleitete kirchenpolitische Kurs der politischen Abstinenz für die Berliner Bischofskonferenz und für die überwiegende Mehrheit des Klerus und der Gemeinden zunächst weiter bestimmend war. Lange, vielleicht allzulange dominierte in manchen kirchlichen Kreisen die Meinung, die Machtfrage in der DDR sei entschieden, und zwar ein für allemal. Aber es gab auch andere Stimmen, die sich im Herbst 1989 öffentlich zu Wort meldeten.
71 Mitarbeiter von Berliner Dienststellen der Caritas richteten beispielsweise am 12. Oktober einen Offenen Brief an Ministerpräsident Stoph, der mit der Feststellung begann: „Gewohnt zu schweigen und auf klärende Wort ‚von oben‘ zu warten, sind wir von der aktuellen Situation in unserem Land stark bedrückt.“ Die Caritasmitarbeiter forderten „einen offenen und allgemeinen gesellschaftlichen Dialog über die grundlegende Demokratisierung des Staates“ und „die Achtung und Einhaltung der Menschenrechte“.
Als geradezu sensationell wurde auch der Hirtenbrief von Bischof Johannes Braun aus Magdeburg vom 20. September empfunden, der nicht nur eine bisherige Grundposition der Bischofskonferenz aufgab, sondern auch die staatstragende SED offen attackierte: „Eine Gruppe oder eine Partei, die von sich behauptet, sie habe immer recht, ist nicht dialogfähig, nicht fähig, Reformen einzuleiten. Denn wo keine Fehler gemacht werden, dort kann auch keine Korrektur erfolgen.“
„Es dämmerte ein Umbruch herauf. Neben der ‚ordentlichen Seelsorge‘ beschäftigten wir uns schon länger in Gesprächen in fast allen Gruppen mit den Auswirkungen der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Wir waren ja selbst Betroffene.“ So schrieb Pfarrer Helmut Graefe über den Herbst 1989 in die Chronik der Gemeinde Heilige Schutzengel in Hennigsdorf. Auch in der Weißenseer Pfarrei St. Josef standen in diesen Monaten Zeitthemen auf dem Veranstaltungs-Kalender wie „Kirche - Anwalt der Menschen“ und „Gemeinde in der DDR - angefragt von der Zukunft“. Während katholische Kirchen im ehemaligen Ostteil des Bistums Berlin für nichtreligiöse Veranstaltungen zumeist geschlossen blieben, öffnete Pfarrer Peter Roske die St. Josef-Kirche für ein Konzert des Liedermachers Gerhard Schöne. Neben vielen nichtkatholischen Besuchern drängten sich auch Stasi-Spitzel in das überfüllte Gotteshaus. Besondere repressive Konsequenzen blieben aus.
Seit dem 9. Oktober wurde in Hennigsdorf öffentlich zu den Montagsgebeten eingeladen. Erste Initiativen hatte zuvor Kaplan Hubert Babik zusammen mit einer kleinen Gruppe aus der Jungen Familie, aus Jungen Erwachsenen und einigen Kolpingsöhnen ergriffen. In der Chronik heißt es: „Wir beten um Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung im Land und Freiheit der Meinung, gegen einseitiges Manipulieren durch eine Ideologie, die gegen die Menschenrechte verstösst. Dazu gab es stets Informationen über Gruppen in der DDR, die diese Anliegen auch politisch öffentlich vertraten, sowie Berichte über brutale Eingriffe der Staatssicherheitsorgane.“ Der Chronist fügt an dieser Stelle hinzu: „Die offizielle Kirchenleitung in Berlin war zunächst noch abwartend und warnte vor Provokationen. In Berlin war die evangelische Kirche schon politisch aktiver.“
Die Sitzung des Pfarrgemeinderates in Weißensee am 9. Oktober stand ganz unter dem Eindruck wachsender Konfrontation mit den staatlichen Organen. Kaplan Martin Berger, der der „Zuführung“ - sprich Verhaftung - an der evangelischen Gethsemane-Kirche nur knapp entkommen war, berichtete als Augenzeuge über die schweren Zusammenstöße mit der Polizei. Der Pfarrgemeinderat beschloss daraufhin eine Novene „Um Frieden und Gerechtigkeit in unserem Land“ vom 15. bis 23. Oktober in der Pfarrkirche. Ständige Elemente dieser Gebetsstunden waren jeweils eine von einem Laien vorgetragene Meditation, zeitbezogene Fürbitten und der Schlusssegen durch den Seelsorger. Diese Gebetsinitiative wurde auf dem Postweg allen Gemeinden im Ostteil des Bistums als dringende Empfehlung mitgeteilt. Soweit bekannt, hat nur die Gemeinde in Hennigsdorf positiv darauf reagiert.
Die Großdemo auf dem Alex am 4. November hat in den Gemeinden wie ein Befreiungsschlag gewirkt. Die regimekritischen Transparente wie „Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit“ oder „Pässe für alle - der SED den Laufpass“ waren Ausdruck neugewonnener Meinungsfreiheit ohne staatliche Bevormundung.
Einen Tag später nahmen sich Bürger aus Hennigsdorf ihre Meinungsfreiheit auf bisher nicht gekannte Weise. Mitglieder der Gemeinde Heilige Schutzengel, des Pfarrgemeinderates und andere gleichgesinnte Bürger richteten einen Brief mit rund 200 Unterschriften an den neuen, ungeliebten Staatsratsvorsitzenen Egon Krenz. Ein zweiter Brief gleichen Inhalts ging an das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Zentrale Forderung: Abschaffung des Überwachungssystems des MfS. Nur so könne das fehlende Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung wiedergewonnen werden. Gleichzeitig forderten die Unterzeichner Durchschaubarkeit und Überprüfbarkeit der MfS-Aktivitäten. Mit anderen Worten: Das Mielke-Ministerium solle endlich Gorbatschows Glasnost beherzigen.
Die Montagsgebete waren inzwischen in Hennigsdorf immer populärer geworden und zwar gemeinsam mit evangelischen Christen. Schließlich wurde ein Schweigemarsch mit Kerzen von der evangelischen zur katholischen Kirche organisiert. Die Chronik berichtet: „Unser Schweigemarsch entfaltete sich ohne unser Zutun zu einer marschierenden Demonstration. Spontan reihten sich Menschen von der Straße in den Zug ein. Autofahrer ließen ihre PKWs am Straßenrand stehen. Es waren schließlich Hunderte.“ Niemand wusste, wie dieser revolutionäre Aufbruch einmal enden werde. Aber es blieb bei einer anonymen Bombendrohung. Die Durchsuchung der kirchlichen Räume verlief jedoch ergebnislos.
Die durch den Volksaufstand 1953 berühmten Hennigsdorfer Stahlarbeiter waren damals zunächst nicht in der ers-ten Reihe. „Sie fingen nicht an“, heißt es in der Chronik. Aber sie seien später teilweise in die Kirche gekommen und zwar nach dem Gebetsteil. An einem Montagabend drängten sich über 700 Menschen in der Pfarrkirche. Besonders engagierte Bürger trafen sich anschließend mit katholischen Gemeindemitgliedern im Pfarrsaal. Dabei wurde ausführlich über aktuelle Probleme der Stadt diskutiert. „Hier bei uns wurde der Grundstein für den Kreis der zukünftigen Stadtverordneten gelegt“, stellte Pfarrer Graefe nachträglich fest.
Die Hennigsdorfer Bürgermeisterin Werner, die als Mitglied des ZK der SED gute Drähte zum Ostberliner Machtzentrum hatte, observierte mitunter persönlich vom Auto aus die Vorgänge auf dem katholischen Pfarrgrundstück, diffamierte auf einer Versammlung im Clubhaus der Stahlwerker den Kolpingssenior Martin Heinze als Lügner, konnte jedoch den Countdown der friedlichen Revolution auch nicht mehr aufhalten.
Am Abend des 9. November signalisierte Politbüromitglied Schabowski auf seiner inzwischen historischen Pressekonferenz die sofortige Öffnung der Mauer von Ost nach West. Der Rubikon war ungewollt überschritten. Das unerwartete Ende der geteilten Stadt bedeutete eine Sternstunde für alle freiheitsbewussten Berliner. Straßen in West-Berlin wurden zu Freiluftparties. „Wahnsinn“ war eines der meistgehörten Wörter dieser Nacht. Pfarrer Roske notierte dazu in der Chronik: „Die Mauer fällt - Berlin ist grenzenlos - die Grenzen los“. Beim nächtlichen Ansturm auf die Grenzübergänge strömten auch katho-lische Christen aus Weißensee und aus dem nahegelegenen Hennigsdorf nach West-Berlin, viele seit Jahrzehnten zum ersten Mal.
Am Sonntag nach dem Mauerfall, am 12. November, wurde in allen Gottesdiensten eine Erklärung der Berliner Bischofskonferenz verlesen, die für das Bistum Berlin vom neuen Bischof Georg Sterzinsky unterzeichnet war. Die bereits am 7. November von den Bischöfen verabschiedete Stellungnahme begrüßte und unterstützte „die Bemühungen all derer, die sich in der DDR um demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse ehrlich bemühen“. Ein bemerkenswert neuer Ton war jetzt der Appell an alle katholischen Christen, „sich am gesellschaftlichen Prozess der Veränderung aus christlicher Verantwortung zu beteiligen“. Viele Gottesdienstbesucher, auch in Hennigsdorf und Weißensee, werden diesen Aufruf als Rückendeckung für die Vergangenheit und als Ermutigung für die Zukunft verstanden haben. In der Hennigsdorfer Chronik heißt es allerdings zu dieser Erklärung der Bischofskonferenz lakonisch: „Kam eigentlich ziemlich spät.“

Wolfgang Knauft
Nr. 43/99 vom 31.Oktober 1999
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